Dr. Jürgen Herzog
Facharzt für Neurologie
Die Multiple Sklerose zählt zu den häufigsten neurologischen Krankheiten.
Während Epilepsie und Schlaganfälle historisch schon aus der Frühzeit der Menschheitsgeschichte bekannt sind, stammen die ersten plausiblen Fallbeschreibungen einer MS erst aus dem späten Mittelalter und nehmen seither zu.
Bei der großen Mehrheit der Betroffenen beginnt die Erkrankung im jungen Erwachsenenalter. Bei einigen Patientinnen und Patienten tritt der Erkrankungsbeginn bereits im Kindesalter oder aber erst im höheren Lebensalter auf. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer. Die Multiple Sklerose ist derzeit noch nicht heilbar und verläuft chronisch. Allerdings gab es gerade in jüngerer Zeit eine Vielzahl neu zugelassener Medikamente zur Verbesserung des Krankheitsverlaufs bei MS-Patientinnen und -Patienten.
Multiple Sklerose ist bezüglich ihrer Ursachen noch nicht vollständig aufgeklärt. Zumindest am Anfang steht ein Autoimmunprozess, wobei ein fehlgeleitetes Immunsystem von Lymphozyten (B-Zellen und T-Zellen) bei Störung der Blut-Hirn-Schranke zu chronischen Entzündungen im zentralen Nervensystem führt. Im weiteren Krankheitsverlauf geht die Multiple Sklerose mit einem zunehmenden Verlust von Nervenzellen einher (Neurodegeneration). Als Ursache bzw. Risikofaktoren für die Erkrankung haben jüngere Studien mehr Umweltfaktoren als genetische Risiken identifiziert. Eine durchgemachte Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV-Infektion) scheint ein häufiger, aber allein nicht hinlänglicher Risikofaktor für eine MS zu sein. Daneben spielen offenbar Vitamin-D-Mangel (einschl. eines niedrigen Vitamin-D-Spiegels), verminderte Sonnenexposition, Ernährungsgewohnheiten mit Übergewicht, Rauchen und eine ungünstige Konstellation von Darmbakterien bei der Entstehung von MS eine Rolle. Nur selten dominieren genetische Ursachen mit einer Häufung von Multipler Sklerose Erkrankungen innerhalb einer Familie.
Die Diagnose Multiple Sklerose (MS) ist heute anhand klarer klinischer sowie technischer Diagnosekriterien meist schnell und sicher zu stellen. Differenzialdiagnostisch müssen andere Erkrankungen erwogen werden, die der MS ähneln. Es wurde z. B. die Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankung früher als eine MS-Variante betrachtet. Mittlerweile weiß man, dass sie durch eigenständige Diagnosemarker und Behandlungen gekennzeichnet ist.
Für die Diagnose Multiple Sklerose sind eine Befragung der oder des Betroffenen nach MS-Symptomen (Anamnese), eine neurologische Untersuchung, eine Kernspintomografie des zentralen Nervensystems (von Gehirn und Rückenmark) sowie eine Nervenwasseruntersuchung (Lumbalpunktion) von zentraler Bedeutung. Zusätzlich können bei Multipler Sklerose elektrophysiologische Untersuchungen, wie evozierte Potenziale, bei der Diagnose helfen.
Die Multiple Sklerose kann sich durch sehr unterschiedliche neurologische und neuropsychologische Symptome zeigen. Dies ist in gewisser Weise davon abhängig, welche Regionen des zentralen Nervensystems von der Erkrankung betroffen sind. MS-Patientinnen und -Patienten können offensichtliche Symptome aufweisen, wie Gangstörung, Koordinationsstörung, Zittern, Sprechstörung, Augenbewegungsstörungen, Lähmungen und Muskelverkrampfungen (Spastik). Für die Lebensqualität der Betroffenen mit Multipler Sklerose spielen aber in besonderem Maße „unsichtbare“ Symptome, wie ein vermehrter Harndrang und Inkontinenz, Schmerzen, Sensibilitätsstörungen, Seh- bzw. Wahrnehmungsstörungen sowie emotionale und kognitive Probleme, eine Rolle. Eines der häufigsten Symptome bei Multipler Sklerose ist die sogenannte Fatigue. Diese ist eine hohe körperliche und/oder mentale Erschöpfbarkeit, manchmal bei Temperatursteigerung besonders ausgeprägt. Die Multiple Sklerose führt auch oft zu mangelnder Konzentrations- und Merkfähigkeit. Patientinnen und Patienten leiden überdies häufig an depressiven Symptomen.
Der Verlauf der Krankheit ist individuell unterschiedlich. Die Lebenserwartung ist statistisch kaum reduziert. Man kann folglich mit der Erkrankung alt werden. Zum weit überwiegenden Teil beginnt sie mit einem schubförmig remittierenden Verlauf (schubförmig remittierende Multiple Sklerose, = RRMS). Damit ist gemeint, dass die Patientinnen und Patienten neue Symptome entwickeln, die sich im Verlauf meist von Wochen mehr oder weniger vollständig wieder zurückbilden können. Nur ein kleiner Teil der MS-Patientinnen und -Patienten hat von Beginn an einen schleichend fortschreitenden, primär progredienten Verlauf (primär progrediente Multiple Sklerose, PPMS). Etwa die Hälfte der von Multiple Sklerose Betroffenen mit anfänglichen Schüben geht nach mehreren Jahren ebenfalls zu einem chronisch progredienten Verlauf über (sekundär progrediente Multiple Sklerose = SPMS), bei dem sich eine zunehmende Behinderung ausbilden kann. Es existieren einzelne Fälle einer „gutartigen“ MS, bei der auch ohne Behandlung ein Leben lang nur gelegentliche Schübe ohne verbleibende wesentliche Behinderungen auftreten. Allerdings gibt es in den ersten Jahren keine sicheren Prognosekriterien bei Multipler Sklerose, anhand derer sich ein solcher gutartiger Verlauf vorhersagen lässt.